Neue Doppelstockzüge für Schleswig-Holsteins Netz Mitte ausgeschrieben

Am Dienstag ist im Amtsblatt der Europäischen Union eine Ausschreibung des Landes Schleswig-Holstein, vertreten durch die NAH.SH, für neue elektrische Triebzüge veröffentlicht worden. Ab Oktober 2026 sollen 40 vierteilige Triebzüge mit einer Option auf weitere 55 beschafft werden. Wir fassen die Ausschreibung zusammen, und welche bestehenden Produkte hier in Frage kommen könnten.

Neben der Herstellung der Züge umfasst die Ausschreibung auch die Instandhaltung über 30 Jahre – also bis Dezember 2057. Optional sollen die Züge auch für den Dänemarkverkehr ausgestattet werden. Bis spätestens April 2024 soll der Zuschlag erteilt werden.

Das Land Schleswig-Holstein führt für die Neuvergabe des Netzes Mitte ein dreistufiges Verfahren durch. Im Vergabeverfahren SH-MSW I wird die Lieferung und Instandhaltung der Züge ausgeschrieben, im Verfahren SH-MSW II die Finanzierung und Vorhaltung und im Verfahren SH-MSW III schließlich die Verkehrsleistung. Als Halter der beschafften Fahrzeuge soll der Hersteller dienen.

Das heutige Netz Mitte, welches in zwei Losen vergeben wurde, wird künftig in zwei Netze unterteilt. Sie umfassen:

NetzFahrzeugeLinien / Strecken
Mitte21 TzRE 7 Hamburg Hbf – Neumünster – Kiel / Flensburg (optional Tinglev in Dänemark)
RE 70 Hamburg Hbf – Neumünster – Kiel
optional: RB 77 Neumünster – Kiel
Südwest19 TzRB 61 Hamburg Hbf – Itzehoe – nach Elektrifizierung Heide
RB 61.1 Hamburg Altona (Diebsteich) – Itzehoe – optional Heide
RB 71 Hamburg Hbf – Wrist – nach Reaktivierung Kellinghusen
55 TzOption für Angebotsausweitungen oder den Einsatz in anderen Verkehrsnetzen, wie z.B. das Netz West (Marschbahn)

Eine kleine Überraschung dürfte hier die optionale Verlängerung des Flensburger RE 7 bis Tinglev in Dänemark sein. Dänemark beschafft aktuell Alstom Coradia Stream-Fahrzeuge, um die Gumminasen und Ansaldo Breda-Triebzüge im innerdänischen Verkehr abzulösen. Für den internationalen Fernverkehr nach Deutschland, konkret Hamburg, sollen Talgo-Garnituren mit Siemens Vectron-Lokomotiven zum Einsatz kommen. Die Alstom Coradia Stream werden allerdings nicht für den Einsatz in Deutschland ausgerüstet, was zunächst das Ende der (umsteigefreien) Verbindung in Richtung Kolding – Fredericia bedeuten würde. Diese Lücke könnten die nun zu beschaffenden Züge schließen.

Konkret fordert das Land Schleswig-Holstein vierteilige elektrisch angetriebene Triebzüge, die durchgängig begehbar und stufenlos von 76cm-Bahnsteigen erreichbar sind. Mindestens Teile des Zuges müssen doppelstöckig sein. Bis zu drei ET sollen in Mehrfachtraktion fahren können. Sie sollen mit einem Reservierungssystem und einem leistungsfähigen WLAN sowie Mehrzweckbereichen mit einer Kapazität für mindestens 24 Fahrräder ausgestattet werden. Die Züge für das Netz Mitte müssen mindestens ca. 325 Sitzplätze bieten, die des Netzes Südwest mindestens ca. 350. Eine Doppeltraktion darf aufgrund der Bahnsteigverhältnisse im Hamburger Hauptbahnhof voraussichtlich nicht mehr als 212 Meter lang sein.

In Betracht könnten hier insbesondere zwei bereits im Einsatz befindliche Triebzüge kommen: Der Stadler KISS, welcher bereits für das Elektronetz Ost gebaut wird (Betriebsstart 2022) oder Siemens Desiro HC (bekannt vom RRX in NRW). Alstom hat mit dem Coradia Stream HC auch ein passendes (aber noch nicht zugelassenes) Fahrzeug im Angebot, welches ab 2024 z.B. in Hessen beim RMV eingesetzt werden soll. Im Folgenden blicken wir auf die Kennziffern der genannten Referenzfahrzeuge, verglichen zu den Ausschreibungsbedingungen und den aktuell eingesetzten Fahrzeugen.

EigenschaftForderung
NAH.SH
Stadler
FLIRT 3
Bombardier
TWINDEXX Vario
Stadler
KISS
Siemens
Desiro HC
Alstom
Coradia Stream HC
Wagen
– davon Dosto
4
– 2
5 – 6
– 0
4
– 4
4
– 4
4
– 2
4 – 5
– 2 – 3
Länge< 10690,8 – 106,9105,56105,22105,2584,2 – 110
Sitzplätze325 – 350259 – 320 (Nordbahn)350 (NAH.SH)405 (NAH.SH)
+ 475 Stehplätze
RRX: 400 (3,80) Übrige: 370 – 410420 – 540 (RMV)
Fahrräder24k.A.k.A.36k.A.30

Der Coradia Stream HC drängt sich hier nicht unbedingt auf: Der Vierteiler ist deutlich kürzer als die anderen Fahrzeuge, die fünfteilige Version nach aktuellen Vorgaben zu lang. Bei im Vergleich mehr Plätzen auf weniger Länge dürften deutliche Abstriche im Komfort zu erwarten sein: Der Coradia Stream bietet in 4-teiliger Version 4,98 Sitzplätze pro Meter, die beiden Vergleichsprodukte von Stadler oder Siemens rund 3,8. Der TWINDEXX Vario bringt es auf 3,31 Sitzplätze pro Meter.

Die vorgenannten Daten sind als Richtwerte zu verstehen, da besonders die Sitzplatzanzahl stark von den Bestellervorgaben abweicht.

Auf den ersten Blick fragwürdig scheint die Vorgabe von Neufahrzeugen: Wie beim schon beim aktuell laufenden Verkehrsvertrag (2014 – 2027) werden vom Land Neufahrzeuge gefordert – und das, obwohl Nachhaltigkeit einen neuen, größeren Stellenwert eingenommen hat… Andererseits reichen weder die 17 TWINDEXX Vario-Triebzüge von DB Regio, wovon einer nach einem schweren Unfall außer Dienst ist, noch die sieben fünfteiligen und acht sechsteiligen Stadler FLIRT 3-Züge der Nordbahn für den Betrieb aus, nicht einmal für das kleinere Netz, zumal auch die FLIRT 3-Doppeltraktionen zunehmend nicht mehr ausreichend Kapazität bieten. Das schließt allerdings nicht den Verkauf der Bestandsfahrzeuge oder Einsatz an anderen Stellen im Konzern aus…

Welcher Hersteller letztlich zum Zug kommt, wird sich zeigen. Ab August 2022 sollen erste Verhandlungen starten. Die finalen Angebote sollen bis Ende März 2023 abgegeben werden, sodass bis spätestens April 2024 ein Zuschlag erteilt werden soll.