ITS 2021: Die Future Rail Experience-Tour

Letzte Woche fand der ITS-Weltkongress in den Hamburger Messehallen statt, am Public Day waren auch wir vor Ort – für die „Future Rail Experience-Tour“, bei der die S-Bahn im Fokus stand. Da über die beiden Projekte schon berichtet wurde, beschränken wir uns an dieser Stelle auf einen mal etwas subjektiveren Erlebnisbericht über die „Weltpremiere“.

Wir schreiben Donnerstag, den 14. Oktober 2021, es ist 13:30 Uhr: 60 Interessierte versammeln sich für die wohl siebte „Weltpremiere“ in den Hamburger Messehallen. Im Eiltempo geht es durch die Hallen entlang der CCH-Baustelle in den Bahnhof Dammtor, um dort gemeinsam auf die S-Bahn zu warten. Allerdings nicht auf irgendeine, sondern die sogenannte Digitale S-Bahn Hamburg. Pünktlich um 14:04 Uhr fährt er dann ein: Der ITS-Sonderzug nach Bergedorf. Einsteigen bitte!

Es sind die noch recht frisch folierten ET 474.4-Triebzüge 4051 und 4048. Im vorderen Triebzug, der zusätzlich zum „Ideenzug“ umgebaut wurde, nimmt die Reisegruppe Platz. Nach einer kurzen Begrüßung erreicht der Sonderzug auch schon den Bahnhof Berliner Tor, an dem die Teststrecke für den automatischen Betrieb beginnt. Die Fotos in diesem Beitrag können per Klick aufs Bild vergrößert angezeigt werden.

Zwischen Berliner Tor und Rothenburgsort wechselt der Zug vom normalen „Handbetrieb“ in den automatischen ATO-Betrieb. Hier drückt der Triebfahrzeugführer gerade den ATO-Knopf und die automatische Fahrt beginnt.
Wenig später erhielten die Teilnehmer einen Einblick auf das Multifunktionsdisplay, welches für den ETCS/ATO-Betrieb nötig ist. Links wird die freie Strecke (knapp 1,4km) angezeigt, wie der versierte Leser es von der LZB (linienförmigen Zugbeeinflussung) kennt… Der Tacho zeigt zusätzlich die aktuell zulässige Höchstgeschwindigkeit, hier 90 km/h, an.

Am Bahnhof Rothenburgsort hält der Zug dann wie von Geisterhand an und gibt ohne weitere Bedienhandlungen des Triebfahrzeugführers die Türen frei. Die Züge bremsen sehr sanft und halten ruckfrei an – ruckfreier als man oft gewohnt ist.

Der Zug weiß immer, in welchem Streckengleis er ist und ob alle Wagen am Bahnsteig stehen – so kann nicht aus Versehen die Tür auf der falschen Seite freigegeben werden. Aus den Fahrplandaten rechnet sich das ATO-System dann aus, wann die Zugabfertigung beginnen kann, und auf welche Geschwindigkeit beschleunigt werden muss. An den Türen wurden Lichtschranken nachgerüstet, sodass die Türen dezentral schließen, nachdem der Fahrgastwechsel abgeschlossen ist.

Dem Durchschnittsfahrgast dürfte der neue ATO-Betrieb – von den neuen Pieptönen, folierten Zügen und wohl pünktlicheren Betrieb abgesehen – kaum auffallen. In Kürze verlässt der Sonderzug den Bahnhof Billwerder-Moorfleet (Foto vom 12.10.2021).

Nachdem die automatische Zugsteuerung ATO over ETCS (europäische Zugbeeinflussungssystem ETCS, Level 2) vorgestellt wurde, ging es mit dem Projekt „Ideenzug“ weiter. Im Werk Neumünster wurde hierfür der Mittelwagen an Kundenwünsche angepasst.

Das bisherige Mehrzweckabteil wurde zu einem Arbeits- und Mehrzweckabteil umgebaut. In der Mitte befindet sich nun ein Arbeitsbereich mit drei „Anlehnplätzen“. In den Fenstern sind drei Breitbildmonitore mit dem Streckenverlauf, Ankunftszeiten und Anschlussinformationen (kurz vor Halt des Zuges) eingefügt worden. Neben dem Arbeitsbereich mit USB-Ladebuchsen befinden sich zwei Stellplätze für Rollstühle oder Kinderwagen. Die kürzeren Sitzlehnen an den regulären Sitzplätzen sollen einen fünften Sitzplatz schaffen, doch … wer kommt mit so wenig Platz aus? Der Nutzen der verkürzten Lehnen machte sich im Test jedenfalls nicht bemerkbar. Auch darf bezweifelt werden, ob der Bedarf solcher Arbeitsbereiche im städtischen S-Bahn-Verkehr wirklich besteht. Was sich in den stündlich als S-Bahn bezeichneten Regionalbahnen des Landes mit langen Reisezeiten als nützlich erweist, muss nicht unbedingt für eine Metropol-S-Bahn sinnvoll sein: Im Spät- und Freizeitverkehr wird sicher niemand freiwillig dort den Laptop aufklappen, schließlich lässt sich das Angebot einschlägiger Schnellrestaurants auch dort ideal unterwegs verzehren.

Kommen wir zu den weiteren Elementen des überarbeiteten Fahrgastinformationssystems. Ob es das bisherige ersetzt, verblieb unklar; da die Sitzbänke getauscht wurden, mussten auch die heute gegenüber dem Mehrzweckbereich angebrachten Monitore ausgebaut werden.

Über den bahnsteigabgewandten Türen werden neben einer Begrüßung im Ideenzug auch die Linie und das Zugziel angezeigt.
Auf der bahnsteigzugewandten Seite werden die Halteposition des Zuges, der türgenaue Standort im Zug sowie die Treppen und Notrufeinrichtungen dargestellt.
Statt der aufgeklebten Schnellbahnpläne sind in den Türräumen in den Decken zwei große Monitore eingebaut worden, welche neben Linie und Ziel die nächste Station anzeigen, samt Ankunftsgleis, Informationen zur Barrierefreiheit und Liveanschlüssen. In angepasster Form wird dies auf den Fenster-Bildschirmen angezeigt. Mit entsprechendem Willen könnte das sicher auch schon kurzfristig ohne zusätzliche Bildschirme realisiert werden – doch dann müsste man auf die Einnahmen aus dem Fahrgastfernsehen verzichten…

Die Elemente des Ideenzugs waren bereits kurz vorm ITS-Kongress der Presse vorgestellt worden, das entsprechende Modell war auf der Messe für die rund 4.000 Besucher des Public Days auch ohne die Teilnahme an der Tour erlebbar. Dort wurden z.B. auch Betriebsstörungen auf den Bildschirmen angezeigt, inklusive Umfahrmöglichkeiten. Das reale System hing auf einzelnen Displays an der Decke am Startbahnhof Elbgaustraße fest, nobody is perfect…

Als Vorbild für die seitlich angebrachten Bildschirme im Fahrgastraum könnte unterdessen die Berliner Baureihe 483/484 dienen, welche seit Neujahr 2021 in Betrieb ist. Auch hier werden der Fahrtverlauf sowie Liveanschlüsse angezeigt, allerdings mit an den Scheiben angebrachten TFT-Monitoren, hier sind die Bildschirme ins Fenster eingelassen, vielleicht sind es sogar Folien? Doch nicht nur das erinnerte an die von Stadler und Siemens gebauten Züge, auch die Türtöne sind identisch (und entsprechen nicht denen des ET 490).

Wenig später erreichte der Sonderzug Bergedorf, wo alle Fahrgäste und auch der überwachende Triebfahrzeugführer ausstiegen – zur Demonstration der fahrerlosen Kehrfahrt. Ganz selbstständig geht das nicht, die ATO-Züge brauchen zur Sicherheit immernoch einen Menschen „an Bord“ – oder eben an der Fernsteuerung im Stellwerk. Von dort kann die erforderliche Bremsprobe durchgeführt und die automatische Kehrfahrt gestartet werden, es handele sich nicht um eine vollständige Nachbildung des Führerstandes. Der Zug kann von dieser Bedieneinrichtung jederzeit zum Stillstand gebracht werden.

Die Tour wurde in Bergedorf durch ein aktuelles VHH-Projekt ergänzt, wo ein „emoin“-Shuttle auf die Besucher wartete. Die nun in Bergedorf fahrenden autonomen Kleinbusse aus dem Hause easy mile reihen sich in die Projekte in Lauenburg und in der HafenCity (HEAT, HOCHBAHN) ein. Die „emoin“-Shuttle kommen im Gegensatz zu den HEAT-Bussen in der HafenCity, welche auf einem vordefinierten Rundkurs verkehren, nach Anruf zum Fahrgast. Die Zukunft der „letzten Meile“ vom Bahnhof nach Hause? Mit einer Höchstgeschwindigkeit von noch 25 km/h („emoin“: 18 km/h) wohl noch nicht.

Es ging zurück auf den Bahnsteig, wo dann der ETCS-Zug der Digitalen Schiene fahrerlos an den Bahnsteig zurückkehrte – natürlich von großem Interesse verfolgt. Bei der Einfahrt legte der sonst diese Woche wohl ziemlich störungsfrei fahrende Zug eine Zwangsbremsung hin, und fuhr danach „selbstständig“ zum Vollzughalt weiter.
Nachdem die S21 vorgelassen wurde, fuhr der ATO-Zug ohne Fahrgäste zurück in Richtung Innenstadt. Typisch für den ATO über ETCS-Betrieb sind die dunkelgeschalteten Lichtsignale mit ETCS-Halttafeln („Ne 14“, für mehr Informationen dazu siehe zB >> Wikipedia)

Böse Zungen fragen nun natürlich, was an all dem nun die Weltpremiere gewesen sein soll, automatische Züge gibt es schließlich nicht erst seit gestern: Seien es die U-Bahnen Nürnberg und Kopenhagen im vollautomatischen GoA4-Betrieb ohne Fahrer, oder die teilautomatischen U-Bahnen in München und Wien, die noch Fahrpersonal an Bord haben. All diese genannten Systeme haben einen gemeinsamen Nenner: Es sind geschlossene Systeme. Erstmals fuhr nun aber ein Zug im ATO-Betrieb in einem offenen System – und noch dazu im Mischbetrieb mit den nichtautomatischen Zügen.

Kurz nach Abfahrt des ET 474 kam dann „unser“ Zug für die Rückfahrt zum Messegelände an den Bahnsteig gefahren: Der Sensors4Rail-Zug 472 061, welcher ebenfalls für den ITS-Kongress frisch beklebt und auf den Namen „Santana“ getauft wurde (Foto vom 12.10.2021).

Der Innenraum des Zuges wurde komplett überarbeitet. Während die Endwagen eine abweichende Bestuhlung (alle Sitzplätze zur Zugspitze) und Innenraumbeklebung in den Farben der Digitalen Schiene Deutschland erhalten haben, wurde der Mittelwagen zu einem Stehplatz-Wagen mit Stehtischen umgebaut. Etwas skurril mutet die Beschriftung „Do not use“ an der Haltestange an… Die Fahrt konnte in rechts dargestellter Optik auf eigens eingebauten Monitoren mitverfolgt werden, leider blieb ein Blick „durch das Auge des Zuges“ dem Imagefilm vorbehalten.
Auf der Fahrt zum Dammtor wurde dann die verbaute Technik vorgestellt. Was im Zug eingebaut wurde, hatten wir bereits im Dezember 2020 >> an dieser Stelle << erläutert. Stellvertretend für die Fahrt zeige ich an dieser Stelle einen Screenshot aus dem Demo-Video der Digitalen Schiene Deutschland, wo alle Messergebnisse kombiniert dargestellt werden. In Rot werden von den LIDAR-Sensoren erkannte Elemente dargestellt. Unterwegs erkennen die Sensoren Bahnsteigkanten, Oberleitungsmasten, Lärmschutzwände und Gebäude als Landmarken. Auch der Abstand der Fahrgäste zur Bahnsteigkante sowie Züge im Nachbargleis werden erfasst. (Grafik: DSD)

Durch die Kombination aller eingebauten Sensoriken errechnet sich der Zug seine Position, die auf 26 Zentimeter genau sein soll, so lassen sich Züge noch genauer als mit heute eingesetzten ETCS- oder PZB-Balisen „orten“. Die Technik könnte die Brücke zum Fahren ohne feste Blockabstände („moving block“, ETCS-Level 3) schlagen. Nur ist man noch weit von der Marktreife entfernt, die „Sicht“ der Sensoren reicht nur wenige hundert Meter, zu wenig für schnellere Züge. Daher fiel die Entscheidung, den Zug noch bis zum Fristablauf im Jahr 2023 zur weiteren Erprobung, dann zur Kartographierung des gesamten Gleichstromnetzes, einzusetzen. Lange war seine Zukunft über den ITS-Kongress hinaus ungewiss…

Nach dem Ausstieg am Dammtor entstand noch ein Abschlussfoto, auf dem die Sensoren etwas besser zu erkennen sind. Während ATO über ETCS flächendeckend bei der Hamburger S-Bahn ausgerollt werden soll, ist die Zukunft der landmarkenbasierten Ortung noch völlig offen – die Technik steckt wie erwähnt noch in den Kinderschuhen. Seien wir gespannt, wie die Digitalisierung voranschreitet…

Vielen Dank an das Team der Digitalen Schiene und S-Bahn Hamburg für die Organisation und fachkundige Betreuung der Fahrten!